Ein Mann von Welt als Trafikant

Trafikanten
21.06.2021

 
Marcus Kindler ist gelernter Food- und Gastromanager und hat früher viel von der Welt gesehen.

Glück im Unglück war es de facto trotz aller Dramatik dann doch für Marcus Kindler gewesen. Wenn auch mit einem großen Schock verbunden. Denn mit 35 Jahren fiel er nach einem Volksfest, auf dem er mit seiner Cousine und Freunden vorher gewesen war, plötzlich auf dem Heimweg um und konnte nicht mehr aufstehen. „Ich war völlig bei Sinnen und wollte deshalb früher als die anderen nach Hause, weil mir den Abend über nicht gut war. Dann das! Ich rief meine Mutter an, die mich fragte, wo ich denn sei. Ich sagte ihr, sie solle aus dem Fenster schauen. Dann ging alles sehr schnell. Ich musste mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht werden.“

Nach einem Gesamtcheck war sofort klar, dass es sich um einen akuten Venenverschluss handelte. Marcus Kindler wurde unverblümt damit konfrontiert, dass sein Bein abgenommen werden müsste. „Ich war außer mir vor Schreck. Stellen Sie sich das einmal vor, im jungen Alter das Bein zu verlieren!“ Der heutige Trafikant ließ sich zur Gegenmeinung in ein christliches Krankenhaus in Braunschweig/Deutschland bringen, der Stadt, aus der auch sein Vater stammte. Doch dort wurde er mit der gleichen Diagnose konfrontiert. Im schlimmsten Fall würde er es sonst nicht überleben.

Ein Jahr musste er in der Klinik bleiben. Privat. Doch den Lebensmut ließ sich Marcus Kindler auch damals nicht nehmen. „Ich malte mir aus, was ich später noch alles machen wollte, was wohl auf mich warten würde und war froh über jeden Schritt der Besserung. Das motivierte mich, während der eineinhalb Jahre Training in der Rehab aktiv mitzuarbeiten. Auch der Pfarrer, der die Langzeitpatienten im Krankenhaus begleitete, war von meiner positiven Motivation überrascht, die in so einer Situation bei einem jungen Menschen keineswegs selbstverständlich war.“ 

Leidenschaft

Seine Fröhlichkeit und seine Lebensfreude spürt man auch jetzt, wenn man Herrn Kindler gegenübersteht. Er behält sie ebenso seinen Kundinnen und Kunden gegenüber bei, wenn seine Expertise zwischendurch von einem Mitarbeiter erbeten wird. Sein Leben war früher schon sein Beruf, und auch jetzt ist der Beruf sein Leben. Den Umgang mit Menschen liebt er. Daher hatte er zum Leidwesen seiner Eltern die Schule im Kärntner Völkermarkt ein Jahr vor der Matura an den Nagel gehängt, um das zu lernen, was er wollte: Hotel und Gastronomie. Seine Tätigkeit führte ihn danach in viele Teile der Welt: nach London, Mailand bis nach Miami. Zehn Jahre lang war er international unterwegs gewesen. War Holiday Hotels F&B Manager und zuletzt im Intercontinental als solcher tätig. In Miami war er für 3.000 Menschen zuständig, von frühmorgens bis in die Nacht. Am Ocean Drive, dem berühmten Küstenboulevard, an dem die Nacht zum Tag wird und Marcus Kindler erst morgens, nachdem die anderen aufgestanden waren, selbst zum Schlafen kam. „Das war eine tolle Zeit!“, schwärmt er. 

Heute sei es genau umgekehrt, lacht Marcus Kindler: „Ich stehe um 3.45 Uhr morgens auf und bin um 5.00 Uhr in der Trafik. Da geht es dann bis 12.00 Uhr mittags. Die Umstellung war für mich kein Problem. Ich finde mich mit allem zurecht.“ Seine Dienstzeiten teilt der Trafikant mit den Mitarbeitern, die zugleich alle auch Familienmitglieder sind: Da gibt es Stefan, den Schwager mit Vollzeit, ebenso Ehefrau Anita und schließlich Tochter Sarah mit zehn Stunden. Sohn Bilgehan macht etwas Anderes.

Familienbetrieb

Von Anfang an war die Familie eng in die Trafikübernahme eingebunden gewesen. „Eigentlich war es ja die Idee meiner Frau gewesen. Sie hat damals im Böhmischen Prater hier im 10. Bezirk gearbeitet. Der Gedanke daran ließ uns schließlich ein halbes Jahr nicht los. Dann hat sie irgendwie mitbekommen, dass diese Trafik hier ausgeschrieben war. Ich traf mich mit dem Trafikanten, und es ging alles reibungslos über die Bühne.“ Marcus Kindler absolvierte, bevor er das Geschäftslokal in der Absberggasse 25 in 1100 Wien übernahm, die Ausbildungsakademie in St. Pölten und ist bis zum heutigen Tag engagierter Trafikant. Denn alles, was er macht, macht er zu 100 Prozent. Deshalb stellte sich schon bald nach der Übernahme der erste Erfolg ein: Marcus Kindler und sein Team erhielten 2012 den BAT Award. Der Verkaufsumsatz konnte kurz nach der Neuübernahme bereits um 55 Prozent gesteigert werden. Eine tolle Leistung, nachdem Ehefrau Anita während der anfänglichen Flaute praktisch ein ganzes Buch am Tag auslesen konnte, da niemand die Trafik besuchte. Gemeinsames Engagement und Begeisterung waren es, die letztlich den Erfolg gebracht haben. „Die Leute kommen gerne zu uns, weil es hier auch lustig ist. Und heute haben wir manchmal so viel zu tun, dass wir es nur mit Müh’ und Not bis zur Toilette schaffen“, lacht Marcus Kindler und nickt scherzend Schwager Stefan zu.

Natürlich hat alles auch mit seiner Vorausbildung und dem jahrelangen professionellen Umgang Kindlers mit Menschen zu tun. Nichts ist ihm im Leben fremd geblieben: auch nicht die Sorgen und Nöte seiner Kundinnen und Kunden, dabei oft mit originellen Marotten. Es gibt daher nichts und niemanden, mit dem er nicht zurechtkäme.

Lichtblick

Dass manchmal in der benachbarten Galerie der Ankerbrot-Fabrik internationale Stars wie Lenny Kravitz oder Brian Adams aus und ein gehen, freut ihn. Sie hatte er einst in Miami als Hotelgäste begleiten und begrüßen dürfen. Jetzt schloss sich nach langer Zeit für ihn der Kreis, als sie nach Wien kamen und er ihnen erneut begegnete, um deren Fotoausstellungen zu besuchten.

Aber auch lokale Prominenz wie der Bierexperte und Journalist Conrad Seidl wohnt in der Umgebung und hat Herrn Kindler als Stammtrafikanten. „Da Herr Seidl stets sehr auffällig gekleidet ist, sorgt er jedes Mal, wenn er zu uns kommt, für Aufsehen. Dabei wird er teils ungeniert von oben bis unten angesehen – aber er genießt das.“

Urlaubsträume

Genießen würde Marcus Kindler auch gerne wieder einmal einen Urlaub. Seit über zehn Jahren hatte er nämlich keinen. Er träumt davon, Miami wieder einmal zu sehen oder nach Thailand zu fliegen. Seine Frau macht immer öfter den Vorstoß, endlich nach Marrakesch reisen zu wollen. Ihm selbst würde ja Griechenland schon reichen, grinst er still in sich hinein. Aber irgendetwas müsste es schon bald werden. Deshalb möchte er auch Tochter Sarah mit Anfang 20 in das Abrechnungswesen einführen und hofft, dass sie langsam mehr Freude am Trafikantenleben finden wird. Denn die Welt hat für Marcus und Anita Kindler noch viel zu bieten. Und wenn es eben der Urlaub ist, auf den man sich dann das ganze Jahr über freuen darf. 

Erstmalig veröffentlicht im Frühjahr 2021